Als Dr. Martin Luther[1] an 19. Oktober 1512 zum Professor an der theologischen Fakultät der Wittenberger Universität „Leucorea“[2] promoviert wird, fängt seine exegetische Arbeit an der Bibel in allem Ernst und wirkmächtig an. Zeitlebens hat er dann das Alte und Neue Testament gelesen, gebetet, übersetzt, ausgelegt, gelehrt, verteidigt, und gepredigt. Er konzentriert sich auf den Psalter, das Johannesevangelium, den Römer- und Galaterbrief, die Bücher der Propheten und jahrelang auf das Erste Buch Mose (Genesis). Sein Theologieverständnis, dass er in Psalm 119 vom König David ausgeprägt findet, faßt er in seinem Vorwort zum ersten Band seiner deutschen Schriften[3] (1539) im Merkspruch zusammen: Oratio (Gebet), meditatio (Textmeditation) und tentatio (Anfechtung). Das ergibt dem Bibelleser ein erfüllendes, obwohl unausschöpfliches Lebensprogram wie der Bibeldoktor am Lebensabend testamentarisch zusammenfaßt[4].
Seine biblischen Übersetzungsarbeiten kommen nach seinem Wartburg-Exil in Schwung und endlich aller Welt zu gut. Dort übersetzt er mit kaum Hilfsmitteln das Neue Testament. Zurück in Wittenberg wird das mit der Expertise Melanchthons und der Kunstfertigkeit Lucas Cranachs senior für die Leipziger Messe druckfertig und von Melchior Lotter publiziert. Es ist das berühmte „Septembertestament“[5] (1522). Erst gut zehn Jahre später liegt die ganze Bibel von ihm und seinen Kollegen[6] in die sächsische Kanzeleisprache als „Weimarer Bibel“[7] (1534) übersetzt vor. Die „Luther Bibel“[8] wurde von Luther mehr als zehnmal revidiert und dann immer wieder gedruckt und unters Volk verkauft. Die letzte Ausgabe, die er noch beaufsichtigte war die Ausgabe von 1545.



Außer den Übersetzungen kommt sein Bibelstudium seinem Predigtamt in der Stadtkirche „St. Marien“ zugut. In der Fastenzeit predigt er täglich, sonst in der Woche zwei und sonntags zwei, manchmal drei, einige Male sogar vier Predigten. So kann er spekulieren,
daß er mehr gepredigt habe als die Kirchenväter Ambrosius und Augustinus.
Helmar Junghans 2010: “Luther und Wittenberg”, S. 89
Anfangsweise gibt er Modelpredigten als kirchenjahresspezifische Postillen heraus: „Adventspostille“ (1521); „Weihnachtspostille“ (1522) und schließlich die „Fastenpostille“ (1525). Posthum wird der ausstehende Teil des Kirchenjahres von seinem Schüler Stephan Roth aus nachgeschriebenen Predigten als reich bebilderte Kirchenpostille herausgegeben. Predigen ist seine Hauptaufgabe, da
Euangeli predigen ist … Christum tzu uns komen odder uns tzu yhm bringenn.[10]
Dieser fleißige Schüler der Bibel und schaffenskräftige Hirte der Kirche beurteilt seinen Einfluß nüchtern. In seiner zweiten Invokavitspredigt[11] hält er der rebellischen Gemeinde vor:
Summa summarum: Predigen will ich’s, sagen will ich’s, schreiben will ich’s. Aber zwingen, mit Gewalt dringen will ich niemanden, denn der Glaube will willig, ungenötigt angenommen werden. Nehmt ein Beispiel an mir. Ich bin dem Ablaß und allen Papisten entgegengetreten, aber mit keiner Gewalt; ich habe allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst hab ich nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen habe, wenn ich Wittenbergisch Bier mit meinem Philipp Melanchthon und mit Amsdorf getrunken habe, soviel getan, daß das Papsttum so schwach geworden ist, daß ihm noch nie ein Fürst oder Kaiser soviel Abbruch getan hat. Ich hab nichts getan, das Wort hat es alles bewirkt und ausgerichtet. Wenn ich mit Ungestüm hätte daherfahren wollen, würde ich Deutschland in ein großes Blutvergießen gebracht haben, ja, ich würde wohl zu Worms ein Spiel angerichtet haben, daß der Kaiser nicht sicher gewesen wäre. Aber was wäre es? Ein Narrenspiel wäre es gewesen. Ich habe nichts gemacht, ich habe das Wort handeln lassen.
Das ist keineswegs leere Redensart. Vielmehr realistische Einschätzung unserer Befindlichkeit vor Gott in der Welt. So heißt es von Gottes Alleinwirksamkeit: „Als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn…“ (Gal.4,4) und wir bekennen uns zu dieser göttlichen Vorhersehung mit Paul Gerhardt: „Gott sitzt im Regiment und führet alles wohl.“ (1653). Luther, der Papst und Kaiser trotzte, hat durch Gottes Güte und Wohlgefallen die Gnadenzeit des aufblühenden Evangeliums in Wittenberg und vielen deutschen Landen erleben dürfen. Was konnte er schließlich daran ändern, dass Bauern, Schwärmer, Kaiser und Papst, Türken und Juden, Humanisten, Bilderstürmer und Sakramentierer dem Evangelium trotz all seines Redens, Predigens, Schreibens und Publizierens doch nicht glaubten, sondern es verkehrten, verdrehten und verstümmelten? Nichts. Beides das Aufblühen des Evangeliums und sein Wachsen, Zunehmen und viel Frucht bringen ist ausschließlich Gottes Gnade und väterlicher Fürsorge zu verdanken. Sola gratia. Es ist nicht zum Schauen, Greifen, Festhalten, sondern bleibt der Hoffnung auf die göttliche Verheißung vorbehalten. Dem Vertrauen, daß es werde, aufkeime, -blühe, wachse und zunehme, um endlich viel Frucht zu bringen. Manches dreißig- oder sechzig-, anderes hundertfältig. Die Selbstbescheidung Luthers hat ihn zum ernsten Warner und Mahner gemacht, daß wir nicht hoffen auf eigen Kraft noch Werk, da die doch nur selten Bleibendes schaffen, eher Not, Schaden und Verderben anrichten. In der Einsicht wird Luther kein Fatalist, Drückeberger, Aufgeber oder Nichtsnutz. Im Gegenteil, er erwartet alles Gute vom dreieinigen Gott. Er hofft und fleht zum Geber aller guten Gaben und Heiland der Welt – gegen allen Augenschein und wenn gleich alle Teufel hier wollten widerstehen. In dem Vertrauen studiert er Gottes Wort, predigt, legt es aus und bringt es an den Mann, sonst nichts. Das Wort Gottes, die schöpferische Dynamis, wirkt, schafft, baut, heilt, reißt ein und verdammt auch, wenn gar Luther schnarcht und wir längst tot sind. Gottes Wort baut sein Reich und bleibt in Ewigkeit. Wir beten, dass es auch bei uns seine göttliche Kraft erweise zum Heil und ewigen Leben. Er ist treu, der es verspricht. Er wird es tun. Luther hat das wunderbare Phänomen der missionarischen Wirksamkeit des Wortes beschrieben mit dem Bild vom Stein, der in den Tümpel fällt und die ausbreitenden Wellen verursacht und auch mit dem vom fahrenden Platzregen, der kommt und geht, wie Er will. Alles liegt an seiner Gnade.
Ich will von Geschichten erzählen, die das lutherische Erbe veranschaulichen. Als Louis Harms zu den Omoro in Äthiopien wollte, da ging es nicht so, wie er wollte. Sein Glaubenskreuzer „Kandaze“ mußte unverrichteter Dinge zurück: „Mit unserer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren!“ (Luther 1528) Fünfmal haben sie es versucht und erst nach des seligen Louis Harms Absterben gabs ein Durchkommen. Nachfahren der Hermannsburger Rückkehrer, die ihr Ziel und das gelobte Land nicht erreichten, haben im südlichen Afrika ein, ja zwei Missionsfelder gefunden im Zululand und Botswana, aber das ist eine andere Geschichte. Nur das noch: In den besten Jahren unter Bischof Georg Schulz waren ungefähr 25, 000 Lutheraner aus dieser Missionsarbeit in der Lutherischen Kirche im südlichen Afrika (LCSA) gesammelt worden. Die Äthiopier, die damals von Louis Harms nicht erreicht wurden, die kamen um die Jahrtausendwende selbst ins südliche Afrika. Sie suchten Arbeit, Lebensraum, Frieden. Sie klopften auch bei der LCSA und bei den Nachfahren von Louis Harms an. Sie suchten Heimat- und Wohnrecht. Sie wollten unsere Kirchen, Gotteshäuser und Seminargebäude für ihre missionarische Arbeit unter den äthiopischen Ausländern nutzen. Und mit einem Schlag – praktisch als wir schliefen (oder mit Anibati, McBen und Kainerugaba Windhoek Lager tranken) – waren es weit mehr als doppelt so viele Lutheraner unter dem konfessionellen Dach. Himmel und Erde werden vergehen, Gottes Wort bleibt bestehen. Es kommt nicht leer zurück, sondern schafft, wozu Er es sendet und macht, was Er haben will.
Wie man des Himmels Heer nicht zählen noch den Sand am Meer messen kann, so will ich mehren die Nachkommen Davids, meines Knechts, und die Leviten, die mir dienen.
Jeremia 33,22
Eine andere Geschichte spielt sich gerade ab, aber sie ist nicht weniger wunderbar. Mein Opa Ziegenhagen war im 2.Weltkrieg Hauptmann in der Wehrmacht und war an der Ostfront stationiert. Er war nicht Teil einer Friedenstruppe. Im Gegenteil. Ihr wißt, wovon ich rede. Nach Jahren der mörderischen Besatzung und auf ungewolltem Rückzug ist er gefallen. Das ist wohl auch, wo vor Luther gewarnt hat, wenn er meinte, wir sollten nicht auf eigene Faust und gegen Gottes klaren Willen Heil, Macht und Ehre durch eigene Kraft und Willen suchen. Damals sang er noch vertrauensvoll: „Verleih uns Frieden gnädiglich…“[12]. Heute marschiert Udo Lindenberg als großer Rattenfänger los und viele bilden sich ein: „Wir schaffen das!“ – alleine und ohne Gott. Jeder kann sehen, wohin diese maßlose Selbstüberschätzung der Menschen hinführt. Immer tiefer ins selbstherrliche Verderben. Jahrzehnte sind seit dem zweiten Weltkrieg ins Land gegangen. Mauern und Grenzen sind gefallen, aber die Kirchen sind immer leerer und die Hirten stehen vereinsamt. Doch dann, kommt Bewegung ins Bild. In Berlin-Steglitz wächst die Dreieinigkeitsgemeinde mit Syrern, Iranern & Afghanen und stellt bisherige Statistik auf den Kopf. In der Lutherstadt Wittenberg sind 2015 mehr als zwei tausend Syrer gelandet. Heute sind mehr als tausend Ukrainer hier untergekommen. Sie finden Arbeit. Gehen zur Schule. Haben Wohnraum. Eine ukrainische Gemeinde hat in unserer Alten Lateinschule neue Heimat gefunden – Kapelle, Altar, Taufstein und Orgel im Gotteshaus inklusive. Und das alles wie über Nacht, praktisch als wir schliefen bzw Ur-Köstritzer Bier genossen. Lutherische Pastoren, Seelsorger und Theologen, die heute Gottfried Martens, Thomas Junker, Markus Fischer, Armin Wenz usw. heißen. Wir waren in der Alten Lateinschule oft bloß eine Handvoll deutscher und englischer Gäste im Gottesdienst mit den himmlischen Heerscharen um den Thron unseres lebendigen und gegenwärtigen Gottes. Inzwischen haben wir zwei, manchmal drei Gottesdienste nacheinander. Einen nach westlichem Ritus[13], den anderen nach östlichem (Ukrainisch): „Erkennt doch, daß der Herr seine Heiligen wunderbar führt“ (Psalm 4,6). Ja, „Wunderbar wird sein, was ich an Dir tun werde“ (Exodus 34,10b). Wenn der Befehl: „Geht auf die Straßen und Gassen, daß mein Haus voll werde“ (vgl. Lukas 14,23) augenscheinlich ungehört verschallt, dann macht Er wahr, was er längst durch den Propheten Hesekiel versprochen hat:
„Ich will mich meiner Schafe selbst annehmen.“
Hesekiel 34,11
Schließlich noch eine Geschichte aus Afrika und zwar aus dem lutherischen Herzland Tansania (früher Deutsch Ost-Afrika).[14] An unserem Stammtisch, der sich donnerstags in der Alten Lateinschule trifft, nimmt auch Harriet aus Moschi unter dem Kilimanjaro teil. Sie ist Voluntärin und arbeitet in der Evangelischen Akademie beim Wittenberger Schloß. In ihrer Heimatstadt im „Luther-Hotel“ wurden vor gut zehn Jahren die Lutherischen Bekenntnisschriften in Swahili vorgestellt. Die „Lutheran Heritage Foundation“ hatte diese Arbeit gefördert und Dr. Anssi Simojoki (Karen, Nairobi) und Dr. Wilbert Kreis (Paris) haben diese Übersetzung begleitet. Nun, ich hatte für diese Arbeit nichts getan, aber wurde zu diesem Fest der lutherischen Bekenntnisschriften eingeladen. Diese Reise hat mir Gottes Wirken im Herzen Afrikas noch mal von einer anderen Seite gezeigt und tief in mein Herz eingeprägt. Wir besuchten lutherische Gemeinden, predigten dort in Gottesdiensten, die alle bis auf den letzten Platz besetzt waren. Die Blaskapelle spielte bekannte lutherische Weisen zur Begrüßung, während der Feier und zum viel zu schnellen Abschied. Bläser waren auch in den Straßen unterwegs und oft winkten uns freundliche Einwohner willkommen. Ich kann kein Swahili. Ich war fremd in dem Land. Aber ich kenne tansanische Lutheraner, die bei uns in Pretoria zur Gemeinde gehörten. Wir hatten sie als treue Kirchgänger kennen- und schätzen gelernt. Tansania hat viel aufgebaut – gerade unter dem Bergmassiv und aktivem Vulkan: Eine lutherische Universität, ein diakonisches Zentrum „Ushirika wa Neema“ (= Gemeinschaft der Gnade), Schulen, Kirchen und vieles mehr. Mich beeindruckte vor allem die Ausstrahlung dieser Menschen und Gemeinden. Sie haben uns tagelang gastfreundlichste aufgenommen und zuhause fühlen lassen. Es hat mich zutiefst bewegt. Der Großvater Garz meiner Klassenkameradin Annemarie war hier stationiert gewesen. Er hatte in der Zeit von Bruno Gutmann als Leipziger Missionar dort gewirkt. Bruno Gutmann war ein Verwandter von Johannes Junker, der uns als Bleckmarer Missionsdirektor die gesammelten Aufsätze „Afrikaner Europäer in nächstenschaftlicher Entsprechung“ (1966) schenkte. Natürlich ist Gutmann längst tot, aber die Arbeit geht weiter. Wilbert Kreis ist in der Nacht nach der Veröffentlichung friedlich in seinem Bett in dem Luther-Hotel eingeschlafen, ehe der Herr über Leben und Tod ihn dort aus dieser Welt in die Ewigkeit abgerufen hat. Ja, es war eine denkwürdige Feier der lutherischen Bekenntnisschriften in Swahili. Beeindruckend das ausstrahlende Gemeindeleben dort, die weit über die eigenen Grenzen Auswirkungen hat. Das berichtet der Enkel von Gutmann – der Journalist Tilman Prüfer aus Leipzig – in der Zeit[15] und in der Biographie über seinen Großvater[16]. Es ist eine wunderbare Bekehrungsgeschichte in der fortlaufenden und andauernden Missionsgeschichte unseres lieben Gottes, der will, „daß allen Menschen geholfen werde und sie alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1.Timotheus 2,4).
Mission eben nicht nur als Einrichtungsverkehr, sondern hin und her. Luther schrieb vom fahrenden Sommerregen und meinte immer wieder: Hin ist hin, wenn das Evangelium einmal vorbeigerauscht ist. Aber Sommerregen ist trotz anhaltender Dürre und mancher Unterbrechungen doch ein saisonales Ereignis. Gott sei Lob und Dank. Da können wir doch auch immer wieder auf das Wunder hoffen, daß Gott sein Evangelium erschallen läßt und es viel Frucht bringt. Gerade so wie z.Z. die Blumen in der Karoowüste wieder aufs herrlichste aufblühen dank des guten Winterregens in der Kap der guten Hoffnung. Es ist halt wie es der dreieinige Gott durch seinen heiligen Prophet verkündigen läßt:

Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem HERRN soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.
Jesaja 55,8-13